Eine menschenverachtende Sekte in Chile
Fotos: Spiegel.de
Zitate aus dem Buch: "Weg vom Leben.35 Jahre Gefangenschaft in der deutschen Sekte Colonia Dignidad" (2005) von Efraín Vedder
Paul Schäfer (1921-2010)
Kinderschänder
Paul Schäfer geißelte jegliche Sexualität als Sünde. Männer und Frauen wurden
strikt getrennt; sie sahen sich meist nur aus der Ferne. Einige junge Frauen
wurden mit elektrischen Viehtreibern zwangssterilisiert, heimliche Affären
drakonisch bestraft. Pubertierende Jungs schickte man ins Krankenhaus und ließ
sie auch im Schlaf beobachten: Wer eine Erektion bekam, erhielt Elektroschocks.
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Ein Leben ganz im Dienst für Gott, dass hatte Paul Schäfer
den 280 Bewohnern auf dem hermetisch von der Außenwelt abgeriegelten Gelände
versprochen. Eine Welt der „Würde“ 360km südlich von Santiago. Im Nirgendwo,
weit entfernt von jeder staatlichen Kontrolle baute Schäfer (1949 – 2010)
jedoch ein Terrorregime auf. Die erfolgreiche Arbeit dieser fundamentalistische
Sekte zeigte der ganzen Welt, dass auch mehr als 30 Jahre nach dem Ende des
Nationalsozialismus Deutsche Folter und Mord unbehelligt ausüben durften.
Der Offizielle Name der Kolonie war: „Sociedad Benefactora y
Educacional Dignidad“ / „Wohltätigkeits- und Bildungsgemein- schaft Würde“,
seit 1988 Villa Baviera / Dorf Bayern. In der Pinochet-Diktatur (1973-1989)
entwickelte sich die Colonia zu einem der größten Wirtschaftsunternehmen
Chiles. Immer mehr Land kam hinzu, bis sie flächenmäßig so gross war wie das
Saarland. In ihren Bergwerken wurden Titan und Molybdän (Chrom für
Stahllegierungen in Kanonen) gefördert.
Eine Frau mit zwei Kindern in der ehemaligen Colonia Dignidad, Heute „Villa Baviera“. Aufnahme von 2005 |
Die Colonia exsistierte schon seit sechs Jahren als Efraín, achtes
Kind einer armen Familie aus der Umgebung, nach einer kostenlosen Behandlung im
Krankenhaus „der Deutschen“ nicht mehr an die Eltern zurückgegeben wurde. 1975,
zwei Jahre nach der Machtübernahme Pinochets wurde Efraín Morales Norambuena
von einer deutschen Frau der Colonia adoptiert und hieß von nun an Efraín
Vedder. Wie alle anderen chilenischen und deutschen Bewohner im Reich des Paul
Schäfer wohnte, aß und schlief in Heimen auf dem von Schäfer mit Kameras und
Mikrofonen überwachten Gelände.
Zitat Efraíns zur Organisation:
„Ob Heilsarmee – die 15- bis 35jährigen oder die Askaris –
35 bis 40, ob Keile – 6 bis 15jährigen oder die Comalos – die 50-bis
60jährigen: Alle Gruppen hatten ihre besonderen Aufgaben, wohnten zusammen und
wurden gemeinsam mit einem ihnen speziell zugeordneten Signalton zu
Versammlungen gerufen. Die fanden stets im Zippelhaus statt.“
„Eine Kirche gab es nicht, denn Schäfer war der Meinung, die
Kirche sei ein überflüssiges Symbol. Die Kolonie insgesamt sei der Gemeinschaft
eine Kirche.“
Zusammenarbeit mit der Diktatur in Chile
Zitat Efraín:
„Auf großen Monitoren beobachteten Tag und Nacht die
Mittleren Knappen und die Askaris das Gelände der Kolonie. Stolperdrähte aus
Kupfer waren kilometerlang quer über das Gelände gespannt. Wenn die rissen, sei
es durch einen Mensch oder ein Tier, wurde ein elektrischer Fluss durchbrochen
und das Signal sofort an die Zentrale gesandt. Sofort wurde dann stiller Alarm
ausgelöst, und bewaffnete Trupps machten sich mit den Hunden auf, entweder die
Eindringlinge zu verjagen oder den Flüchtenden zu überraschen. So perfekt war
das Zusammenspiel von Mensch und Technik, dass Flucht nahezu unmöglich war.“
Während der chilenischen Militärdiktatur unter Augusto
Pinochet (1973-1990) arbeitete die Kolonie eng mit dem Militär und den
Geheimdiensten zusammen. Auf dem Gelände wurde ein Folterlager der
Geheimpolizei DINA angelegt. Dort folterte man hunderte chilenische
Regimegegner, Dutzende wurden ermordet. In der Colonia Dignidad wurden auch
konventionelle, chemische und biologische Waffen hergestellt. Sie waren ein
wichtiger Baustein der Rüstungs- und Kriegsplanungen Pinochets, denn Chile
befand sich in permanenten Grenzstreitigkeiten mit seinen Nachbarländern und
war während der Militärdiktatur
zeitweise von Waffenembargos betroffen. Die Colonia Dignidad bot sich wegen
seiner Abgeschlossenheit und Abgelegenheit an und konnte außerdem als
anerkannter wohltätiger Verein zollfrei Güter über Chiles Häfen und Flugplätze
einführen.
Zusammenarbeit mit Deutschland
In der Ära des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer
(1949-1963) hat man kritische Stimmen zur Colonia Dignidad lieber unter den
Teppich gekehrt.
Den wenigen, denen die Flucht gelang, wurde nicht geglaubt.
Ehemalige Sektenmitglieder berichten, dass selbst die Deutsche Botschaft bis
1985 Flüchtlinge wieder zurück in die Kolonie schickte. Die Kolonie hatte sich
zu einem großen Wirtschaftsunternehmen entwickelt, hatte eine eigene
Flugzeuglandebahn und pflegte Kontakte zu deutschen Politikern und Diplomaten.
Bis in die 1990er Jahre hing ein handsigniertes Porträt des
früheren bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (1915 – 1988) in
dem zentralen Bau der Siedlung. Strauß hatte 1977 eines der Restaurants der Siedlung besucht und sich
danach nie kritisch geäußert.
Hartmut Hopp
(Mitte) im Gespräch mit Diktator Pinochet 1987. Hopp war Leiter des
Krankenhauses in der Colonia Dignidad. Nach der Verurteilung wegen Beihilfe zum
Kindesmissbrauch in Chile floh er nach Deutschland. Derzeit prüft die
Staatsanwaltschaft Krefeld, die Möglichkeit einer Verfahrensaufnahme.
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Auch andere Politiker besuchten die Kolonie und hatten
Kontakt zu Paul Schäfer, der sich mit seiner Flucht nach Chile 1961 einer
Verhaftung in Deutschland wegen Kindesmissbrauchs entzogen hatte. Diese Flucht
sowie die Ausreise von mehreren Familien mit Kindern war im Vorfeld durch die
deutschen Behörden wie das Jugendamt genehmigt worden. Deutsche Firmen und
sogar Bundestagsabgeordnete unterstützten Paul Schäfer. Die deutsche Justiz und
Politik reagierte nicht, obwohl Amnesty International und die UNO seit 1977 immer
wieder über das deutsche Folterlager in Chile berichteten. Der deutsche
Journalist Gero Gemballa recherchierte und informierte ausführlich über das
Unrechtssystem Colonia Dignidad. Im Alter von 40 Jahren starb er plötzlich an
Herzversagen, es gab Spekulationen über ein Giftattentat.
Colonia Dignidad – eine Nazisekte?
Die Colonia Dignidad war keine Nazisekte; sie vertrat jedoch einen
stark antikommunistischen Diskurs sowie Vorstellungen und Werte, die ihnen in
rechtskonservativen sowie rechtsextremen Kreisen in Chile und
Deutschland Sympathien verschafften. Waffenhändler (z.B. Gerhard Mertins),
ehemalige Nazigrößen (z.B. Hans-Ulrich Rudel, Walter Rauff) und Politiker
rechtskonservativer Parteien beider Länder gingen in der Colonia Dignidad ein
und aus. Geheimdienste verschiedener Länder interessierten sich für die Aktivitäten
der Colonia Dignidad.
Kindheit in der Colonia
Als Efraín 4 Jahre alt war wurden ihm erstmals Psychofarmaka
verabreicht. Er beschreibt die Zeit nach der Einnahme so: „Die Folge war, dass
ich im Unterricht vor mich hin döste und die üblichen Kabbeleien zwischen mir
und den fast gleichaltrigen Jungs nachließen.“
Anfangs hatte Efraín noch von 8 bis 12 Uhr Schulunterricht,
dann kamen die Hausaufgaben und für den Rest des Tages die Zuteilung von
verschiedenen Aufgaben wie zum Beispiel dem Bauen von Betonzäunen für die
Außenmauer oder dem Graben nach Gold hunderte Kilometer entfernt von der
Kolonie.
Währenddessen wurde Efraín immer wieder nachts in Pauls
Schäfers Haus beordert, wo er manchmal nächte- oder tagelang blieb. Den über
Jahre andauernden und ritualisierten Mißbrauch durch Sektenchef Paul Schäfer beschreibt er so:
„Jeder wußte, was er damit bezweckte. Nicht die Kontrolle, ob man sich selber
beim Duschen berührte, trieb ihn dazu, sondern der sexuelle Reiz, der sich bei
ihm in der Paarung von „Säuberung des Körpers“ und „sündiger“ Sexualität
zeigte. Ich bin erst Jahre später dahintergekommen, dass dies sein Fetisch
war.“
Als Efraín zu einem jungen Mann heranwuchs, der immer wieder
mit dem Spitzel- und Kontrollaparat Schäfers in Konflikt kam, holte man ihn
immer seltener in die einzige Privatwohnung auf dem Gelände. Erst 2002 erfuhr
Efraín, dass sein leiblicher Bruder, in der Kolonie „Franz“ genannt, gemeinsam
mit ihm im Heim für die Jungen aufgewachsen war. Die Schulbildung blieb
rudimentär. Spanisch lernte Efraín fast gar nicht.
Das Ende der Schreckensherrschaft
Das Ende der Diktatur Pinochtes (1990) läutete auch das Ende der Colonia Dignidad ein. Schäfer wurde ab 1998 steckbrieflich gesucht. Sein Einfluss im In- und Ausland nahm ab. Er ging in den Untergrund. Erst auf dem Gelände der
Kolonie, später in Argentinien. Dort wurde er auch 2004 gefasst und an Chile
ausgeliefert. Mehrfach verurteilt wegen Kindesmißbrauch starb er 2010 in der
Haft. Auch mehrere Mittäter aus der Colonia wurden vor Gericht gestellt. Viele von ihnen leben bis heute in Freiheit.
2005 wurde auf
dem Geländer der Colonia Dignidad das größte Waffenlager Chiles entdeckt. 2006 fand
man ein Massengrab.
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2015 erschien eine WDR-Dokumentation zur Colonia Dignidad:
http://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/planet-wissen-wdr/video-colonia-dignidad--gefangen-in-einer-sekte-100.html
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