Dienstag, 10. März 2015

Nachtrag zum Post: Chile - Utopie und Folter


Zu Deinem Post habe ich ein paar Anmerkungen. Zum einen bin ich noch nicht dazu gekommen, das „Museo de la Memoria“ zu besuchen. Es wurde mir aber berichtet, dass einerseits bei der Errichtung und der Konzeption die Agrupación de Familiares de Detenidos Desaparecidos nicht beteiligt wurde, andererseits aber auch der Opfer auf Seiten der Militärs und der Polizei gedacht wird. Das scheint mir eine ähnlich gespaltene Gesellschaft in der Aufarbeitung zu sein, wie in Spanien, wo heute noch Franco-Statuen stehen und das Valle de los Caidos immer noch so ist wie zu Francos Zeiten. Ganz zu schweigen davon, dass die Geschichtsbücher in den Schulen Vieles verschweigen.

Dann ist die Rede vom Selbstmord Allendes. Ich persönlich neige dazu, es so zu beschreiben, dass Allende bei dem Putsch ums Leben gekommen ist. Gegen die Selbstmordtheorie (trotz angeblicher Beweise durch die Obduktion letztes Jahr) ist auch ein Buch in Chile herausgekommen. Und wenn ich nach den Informationen gehe, den offiziellen wohlgemerkt, habe ich gerade deswegen Zweifel. Allende wurde von zwei Kugeln aus seiner Kalaschnikow AK-47 getötet, sagt die offizielle  Version. Die Kalaschnikow ist ein Sturmgewehr, das man auf Einzel- und auf Dauerfeuer einstellen kann. Ist es auf Einzelfeuer gestellt, so ist es zweifelhaft, dass Allende nach dem einen tödlichen Schuss noch ein zweites Mal abgedrückt haben soll. Dazu muss man nämlich den Abzugshebel loslassen und erneut abdrücken. Ist aber auf Dauerfeuer eingestellt, so werden sich mit einem Zeigefingerdurchzug wesentlich mehr Schüsse auslösen als nur zwei.
 
Die vorherigen und auch die gerade erst aufgetauchten Zeugen der Geschehnisse von vor über 40 Jahren sind für mich nicht sehr glaubwürdig, gerade die Ärzte weil sie erst jetzt in letzter Zeit „auspacken“. Sie hätten ohne Gefahr wesentlich früher etwas sagen können. Insgesamt soll es also fünf direkte Zeugen gegeben haben, alle zum Zeitpunkt des Suizids Augenzeugen: Die Ärzte Patricio Guijón und José Quiroga, die Sicherheitsbeamten  David Garrido und Ricardo Pincheira sowie Pablo Manuel Zepeda Camillieri (Mitglied der Garde Allendes). Aber keiner der fünf bestätigt die Anwesenheit der insgesamt vier anderen. Die beiden Ärzte wollen den Suizid durch jeweils eine geöffnete Tür gesehen haben. Wieviele Türen gab es noch für die anderen Zeugen? Zudem decken sich einige Zeugenaussagen in Bezug auf die zurückgelegten Wege nicht mit dem Grundriss der Moneda zu dem Zeitpunkt des Putsches. Seltsam.
 
Für die These der Ermordung von Salvador Allende spricht hingegen ein forensischer Bericht, der auf Auffälligkeiten in der Autopsie des Präsidenten hinweist, die noch am Abend des 11. September 1973 auf Anordnung von Pinochet vorgenommen wurde. Darin werde nicht erwähnt, dass das Austrittsloch der Kugel nicht mit der angeblich benutzten Waffe übereinstimmt. „Die Eigenschaften des Austrittslochs der Kugel stimmen nicht mit einem Schuss aus einer Kriegswaffe überein, wie offiziell behauptet wurde", so der Autor der Studie, Luis Ravanal. Auf diese Aussage geht kein späterer Bericht mehr ein.
 
Ein Letztes: Es ist inzwischen bewiesen dass der Präsident vor Allende, Eduardo Frei, im Krankenbett durch eine Injektion ermordet wurde. Es gibt Hinweise darauf, dass Neruda ebenfalls durch eine Injektion im Krankenbett ermordet wurde, zumal auch sein Transport von Isla Negra nach Santiago z.B. nicht in einem Hubschrauber, sondern in einem Krankenwagen über die Landstraße führte und augenscheinlich sehr verzögert wurde.

Putschisten und Junta, die in Tausenden von Fällen nicht vor heimtückischem Mord zurückschreckten, kommen für mich auch als Täter im Fall Allende in Betracht. Erinnerst Du Dich an die Tonaufzeichnung der Befehle von Pinochet? Er wollte, dass Allende ein Flugzeug ins Exil angeboten werden sollte. "Es bleibt weiter das Angebot, ihn aus dem Land zu bringen, aber das Flugzeug stürzt ab (Se mantiene el ofrecimiento de sacarlo del país pero el avión se cae) ", sagte Pinochet in einem Funkspruch an den Vizeadmiral Carvajal. Wenn Allende Selbstmord begangen hätte, wäre er ihm also nur zuvorgekommen. Warten wir ab, was die Zukunft an weiterer Aufklärung bringt.
[Rainer Stach]

El derrotero del gringo loco



Neues aus der Cleta



Sie stammen von dem Indianerstamm der Mapuche und den spanischen Kolonialherren ab. So beschreiben sie sich wenn ich sie nach ihrer Herkunft frage. Sie sind stolz darauf, die Nachfahren der Mapuche zu sein - eines stolzen Volkes, dass sich als einziges in Südamerika erfolgreich gegen die „Konquistadores“ zur Wehr setzte.

Die trockenste Wüste der Welt im Norden, im Osten die Anden, im Süden und Westen das Meer. Irgendwo dazwischen liegt die Bar in der ich sitze, genannt „La Cleta“. Sie hat einen Hinterhof - einen Biergarten mit lauter Rockmusik: Faith no more, Soundgarden, pearl jam. In der Bar steht ein Spielautomat, im Fernsehr läuft Wrestling. Zwei Businesstypen, ein Paar Verliebter und viele junge Männer, die rein und rausgehen, telefonieren, texten, trinken.

In Santiago gibt es eine Metro, Kentucky Fried Chicken, europäische Anonymität und Smog. In Talca wo die Cleta an der eintönigen Hauptverlehrsstraße liegt gibt es nur einen Kiosk. Ein Pferdegespann fährt vorbei, hunderte Kinder in Schuluniform warten auf das Mikro, den langsamen, alten schäbigen Bus, der sie zurück zu ihren Familien bringt. 
In der Cleta gewinnt gerade der Typ mit dem Borstenschnitt gegen den langhaarigen Typ in StarsAndStripes-Unterhose. Niemand guckt hier Wrestling. Überall in Südamerika läuft der Fernseher immer aber niemand schaut hin.

Chile ist ein Land der Extreme. Arica liegt von Santiago aus gesehen 2000km nördlich. Eine andere Welt. Genauso wie hier in Talca. 250 km südlich von Santiago ist es im März noch heißer als in der Hauptstadt. Offspring mit „The kids aren’t alright“. Ich bin der einzige, der nicht aus Chile ist, der einzige Gringo (Bleichgesicht). Eine berühmte chilenische Legende heißt „El derrotero del gringo loco“ – „Der Weg des verrückten Gringos“.
Einfache Plastikstühle an Campingtischen. Jetzt ist eine Frau reingekommen. Sie wird von allen jungen Männern herzlich umarmt. Im Fernsehen betreten eine blonde Frau Mitte Fünfzig im StarsAndStripes-Top und eine rothaarige junge Frau voller Muskeln die Wrestlingbühne.

Man kann die Chilenen schlecht verstehen. „Ellos comen las palabras“ – „Sie essen die Wörter“. Man versteht nur die erste Silbe, den Rest muss man eraten. Manchmal verstehe ich noch nicht einmal die erste Silbe. Der eine junge Mann behauptet nicht ohne Stolz, dass die Chilenen die schlechteste Aussprache Südamerikas haben. Die Amazonen würgen sich. Silverchair spielen auf.

Man fällt hier als Gringo nicht so sehr auf wie in Bolivien oder Peru. Sogar in Talca wird man nur teilnahmslos wahrgenommen. Oder spielen sie mir nur etwas vor? Ich kann den Blick nicht von den kämpfenden Amazonen lassen. Die jungen Männer gucken nur auf ihre „Celus“ – auf ihre Smartphones. Die Frau ist schon wieder weg. Die Musik wechselt zu Techno.

Welches sind die neuen aktuellen Rockbands aus Chile? Keiner hat eine Antwort. Wie überall in Südamerika scheinen Cumbia und Reggaeton alles platt zu machen. Genauso wie die 50jährige Kämpferin im StarsAndStripes-Top die Rothaarige mit dem schönen Gesicht und den häßlichen Muskeln.

Worauf sind alle Chilenen stolz? Auf das Südamerika-weit bekannte Comic „Condorito“, auf den Schrifsteller Pablo Neruda, die Aussicht vom Berg San Cristóbal auf das Häusermeer von Santiago (5 Mio Einwohner) und - genauso wie alle Südamerikaner – auf ihr Essen.

Ich wollte chilenische Zigaretten, man gab mir Lucky Strike, ich wollte ein chilenisches Bier, man gab mir „Kunstmann“ (von deutschen Brauern aus dem Süden Chiles), ich wollte etwas über die Diktatur Pinochets erfahren, man erzählte mir vom Golpe – vom Militärputsch am 11. September 1973. Über die Zeit nach dem Putsch erzählen die Chilenen nicht gerne. In der Stadtverwaltung von Talca werde ich an verschiedene Beamte weitergereicht und auf den nächsten Tag vertröstet ... auf den nächsten, auf den nächsten ... und dann finden sie nichts. „Das Erdbeben 2010 ist Schuld.“

Der Kolumbianer Gabriel García Márquez beschreibt in seinem Buch „100 Jahre Einsamkeit“ die Verlorenheit, das lange Warten und die ewig gleichen Wiederholungen im Leben der Menschen Südamerikas. Nirgendwo wird diese leichte unterschwellige Einsamkeit deutlicher als in Chile. Nirgendwo sonst scheint sich der Tag immer und immer wieder zu wiederholen. Im Fernsehen betreten zwei neue Wrestler die Bühne.