Sie
hatte Schultern, aber fast keine Arme und nur ein paar Finger. Die
Beine endeten an den Oberschenkeln. Und trotzdem ist sie Auto gefahren, eine Spezialanfertigung für sie. Fast jeden Tag
fuhren wir zur Physiotherapie.
Im
März 2011 haben wir uns kennengelernt. Ein
Kumpel arbeitete damals mit ihr. Noch im gleichen Monat wurde ich ihr persönlicher
Assitent. 24h-, 48h- oder 72h-Stunden-Dienste. Ich schlief in einem Zimmer in ihrer Wohnung. Essen, Trinken und Schlafsack brachte ich mit.
Ihre
Eltern habe ich nur einmal gesehen. Sie wollte, dass ich keinen Kontakt zu
ihnen habe. Trotzdem haben wir uns im Sommer 2011 an dem Haus getroffen, in dem
sie aufgewachsen war. Ihr Vater meinte, dass seine Tochter wohl nicht so ganz
einfach sei. Seine Frau hatte in der Schwangerschaft Contergan
eingenommen.
1957
kam der Arzneistoff Thalidomid in Deutschland unter dem Namen Contergan auf den
Markt. Rezeptfrei. Vier Jahre später wurde das Medikament durch die
Herstellerfirma Grünenthal vom Markt genommen. Grund war die Feststellung einer
kausalen Beziehung zwischen der Einnahme von Contergan durch schwangere Frauen
und einer Fehlbildungs-Welle von Neugeborenen bis Mitte des Jahres 1962. Die
Frauen hatten das Medikament gegen Kopfschmerzen eingenommen.....
Weitere
Informationen zu Contergan:
"Contergan - 50 Jahre später" (Dezember 2012)
Einmal
war der Handwerker in der Wohnung. Ich hatte einen 72h-Dienst und war ohne Unterbrechung damit beschäftigt, sie zu versorgen, aber auch alles abzukleben
und mit Folien auszulegen, um im Anschluss jedes einzelne Möbelstück und jedes
Kuscheltier zu reinigen. Nach diesen drei Tagen hat sie mich das erste
und einzige Mal gelobt.
Das war eine Ausnahme. Ich glaube, dass sie es noch nicht einmal
bewusst wollte: Sie hat sich von mir nicht helfen lassen wollen.
Sie beschimpfte mich - wir beide völlig übermüdet - wenn ich ihr Nachts mit unzähligen Lagerungskissen nicht in
die Position verhalf, in der sie Schmerz-frei war. Sie beschimpfte mich, weil ich das Shampoo nicht
richtig einmassierte. Sie beschimpfte mich bei jeder meiner Pflegehandlungen.
Einmal, in Vorbereitung auf die Physiotherapie, es war das erste Mal für mich - mit unglaublich
viel Kraftaufwand nach dem Duschen, den Toilettengängen - wieder einer Lagerung,
doch dieses Mal auf einer hohen Liege mit erneut unzähligen Kissen und Tüchern...
... Sie
beschimpfte mich, weil ich sie wiederum falsch hingelegt hätte. Irgendwann, in
dieser von spanischen Wänden umgebenen Kabine hätte ich die Arbeit abbrechen
müssen. Ich hätte gehen müssen, weil ich ganz offensichtlich unprofessionell
handelte. So hat sie es dargestellt...
... Aber ich konnte nicht gehen. Ich konnte sie dort nicht alleine lassen. Sie
kann zwar ein Auto steuern aber jemand muss sie in das Auto hineinheben. Sie darf niemals in ihrem Leben auch nur für fünf
Minuten alleine sein.
Während
ich bei ihr arbeitete, absolvierte ich das Bewerbungsverfahren für den Höheren
Dienst im Auswärtigen Amt. In Bonn nahm ich an einem eintägigen
Prüfungsverfahren teil, wurde zusammen mit weiteren 500 Kandidaten unter anderem in
Geschichte, Politik und Mikroökonomie geprüft. In der Pause saß ich in der Mensa mit einer jungen Frau am Tisch. Wir kamen ins Gespräch. Sie betreute in Köln eine Contergan-Geschädigte Frau. Sie sagte, dass es total schön wäre, weil sie mit der von ihr betreuten Dame auf
Parties geht und Familienfeste feiert.
Nach acht Monaten kündigte ich.
Die
Prüfungen für das Auswärtige Amt habe ich nicht bestanden. Ein Freund meiner
Schwester hat es geschafft. Auf seinem Schreibtisch streicht er fertige Aufgaben auf dem Notizzettel mit
dem Lineal durch. Die Contergan-Geschädigte Frau beschwerte sich bei mir, wenn ich das Wasserglas auf dem Tisch auch nur einen Zentimeter in die falsche Richtung verschob.